Thomas Tuchel ist zuletzt von den englischen Medien sehr scharf kritisiert worden. Dabei gab es in der WM-Qualifikation drei Siege aus drei Spielen. Doch in England reichen Siege alleine schon längst nicht mehr.
Die englischen Medien zögerten nicht. Unmittelbar nach der Niederlage gegen den Senegal knöpften sie sich
Die Schlagzeilen waren allerdings programmiert. Ein Deutscher an der Seitenlinie der englischen Nationalmannschaft? Das alleine reicht auf der Insel schon für ein gewisses Grundrauschen. Wenn dann auch noch die Ergebnisse nicht passen, ist klar, dass der Boulevard zuschlägt. Zwar feierte England in der WM-Quali drei Siege gegen Albanien (2:0), Lettland (3:0) und Andorra (1:0), doch spielerisch überzeugend waren die nicht. Es fehlten Frische, Leidenschaft und echte Spielfreude. Die jüngste Niederlage am 10. Juni gegen den Senegal (1:3) war dann endgültig ein gefundenes Fressen.
Tuchel war nicht direkt "ihr Mann"
"Der Boulevard hat nur darauf gewartet", sagt England-Experte Uli Hebel im Gespräch mit unserer Redaktion. "Die Engländer lieben es, Konflikte über ihre Medien auszutragen. Tuchel war für sie trotz des großen Respektes nicht direkt 'ihr Mann'. Sie haben die schwächeren Ergebnisse nur allzu gern aufgegriffen, um eine neue Debatte zu starten."
Dabei gibt es gute Gründe für den eher schleppenden Start der Ära Tuchel. Die Spieler hatten eine lange Saison in den Beinen, dazu gab es Verletzungen und kaum Zeit zur Regeneration. Und außerdem kaum Zeit, um die eigenen Ideen umzusetzen. Zwei Lehrgänge waren es bislang lediglich.
Tuchel hat in der Kürze der Zeit zunächst versucht, defensive Stabilität auf- und defensive Automatismen einzubauen. Er hat auf dem Papier einen exzellenten Kader zur Verfügung, doch "obwohl der Stamm der Mannschaft seit Jahren im Kern derselbe ist, hat sich nie ein echtes Zusammenspiel entwickelt, eher ein gegenseitiges Über-Wasser-Halten", sagt Hebel. Offensiv waren die Engländer oft nur ein nicht eingehaltenes Versprechen.
Tuchels Ideen brauchen Zeit
Das krempelt auch Tuchel nicht von jetzt auf gleich um, auch wenn er genau weiß, was er will. Geduld ist im Mutterland des Fußballs keine Tugend, doch die wird man brauchen, bis die Pläne des Trainers greifen. Das ist ein normaler Prozess, das produziert aber natürlich nicht so schöne, knackige Schlagzeilen.
Von einer medialen Kampagne gegen Tuchel will Hebel aber nicht sprechen. Der Ton in Englands Medien ist generell rauer, es wird schärfer geschossen als zum Beispiel in Deutschland. "Die Boulevard-Medien in England sind vor allem opportunistisch", erklärt Hebel. Soll heißen: Sie greifen auf, was ihnen gerade angeboten wird. "Hätte Tuchel seine ersten Spiele 9:0 gewonnen, hätten sie ihn genauso gefeiert, wahrscheinlich mit martialischen Schlagzeilen irgendwo zwischen 'Panzerfußball' und 'deutscher Präzision'. Sie spiegeln Stimmungen, die sie selbst mit anheizen."
Tuchels Vorteil: Er kennt die Dynamik des Boulevards aus seiner Zeit beim FC Chelsea, wo er sich von 2021 bis 2022 unter anderem mit dem Champions-League-Sieg eine Menge Respekt erarbeitet hat, der bis heute anhält. Und das auch innerhalb der englischen Nationalmannschaft.
Tuchel polarisiert auch in England
Tuchels Nachteil: Er hat bei früheren Stationen gezeigt, dass er nach einer eher ruhigen Anfangszeit hinten raus oft dünnhäutiger wird oder sich gewisse Dinge schlicht nicht mehr gefallen lässt. Für Hebel ist das "Potenzial dafür definitiv da", dass ihm der Umgangston mal zum Verhängnis werden könnte. Denn Tuchel polarisiert, auch als Nationaltrainer Englands.
Das liegt an seinem herausfordernden Charakter, aber ebenfalls daran, dass er auch mal Spieler namentlich kritisiert, wenn ihm etwas nicht gefällt. Und weil er so nominiert, wie er es für richtig hält und nicht, wie es unbedingt erwartet wird. Tuchel beruft den Kader strikt nach seiner Spielidee. Ivan Toney nennt Hebel als Beispiel, weil er ihn "gezielt als Spezialisten für lange Bälle oder Elfmeter eingebaut hat. Das kann man kritisieren, aber es ist konsequent", sagt Hebel.
Tuchel war aber noch nie jemand, der sich anpasst, um dem Umfeld zu gefallen. Er will gestalten, auch wenn es unbequem wird, dabei ist er fordernd und direkt. Damit eckte er schon immer an. Das war ihm aber auch schon immer ziemlich egal.
In der Quali kann Tuchel nur verlieren
Er weiß zudem, dass er in einer WM-Qualifikation mit den Gruppengegnern Albanien, Serbien, Lettland und Andorra im Grunde sowieso nur verlieren kann. Ein 1:0 gegen Andorra? Eine Katastrophe! Ein 9:0? War zu erwarten! Für ein Urteil ist es aber noch zu früh, laut Hebel könne man "nach den Lehrgängen im September, Oktober und November anfangen, seriös zu bewerten und wirklich fair Bilanz ziehen".
Doch am Ende zählt sowieso nur der Titel bei der WM im kommenden Jahr. Southgate hat es in seiner Amtszeit von 2016 bis 2024 geschafft, die "Three Lions" gesellschaftlich wieder relevant zu machen. Er feierte mit WM-Platz vier 2018 und den Vize-Titeln bei den Europameisterschaften 2021 und 2024 zudem sportliche Erfolge, die Begehrlichkeiten weckten, die er am Ende nicht mehr bedienen konnte. Die Latte hängt für Tuchel nach Southgates Rücktritt daher immer noch sehr hoch, wenn nicht sogar höher. Denn von Tuchel erwartet man in England mehr als von seinem Vorgänger, auch spielerisch.
U21 befeuert die Erwartungen
Der erneute EM-Titel der U21 befeuert die Erwartungen zusätzlich, denn die goldene Generation um Harry Kane, Jude Bellingham, Phil Foden oder Bukayo Saka bekommt ambitionierten und talentierten Nachwuchs. Tuchel hat also jede Menge Potenzial vor sich.
Seine Aufgabe ist so simpel wie kompliziert: Ein funktionierendes Team formen, das begeistert und den Titel holt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. "Wenn er den WM-Pokal holt, Ritterschlag. Wenn nicht, war es ein Fehlschlag", sagt Hebel. Vielleicht reicht noch das Halbfinale. Aber selbst das wird nicht genügen, wenn der Fußball nicht überzeugt.
Tuchel simuliert die Hitze in den USA
Tuchel wird vorbereitet sein. "Er weiß, dass er sich auf Spieler stützen kann, die bei City oder Arsenal unter Top-Trainern funktionieren und auf sehr hohem taktischem Niveau agieren. Diese eingespielten Abläufe aus dem Vereinsfußball wird er nutzen", sagt Hebel. Der DAZN-Kommentator geht auch davon aus, dass sich Tuchel bei Amtsantritt einiges an Macht hat zusichern lassen, "dafür ist er bekannt. Doch selbst wenn er keinen Einfluss zugesichert bekommt, versucht er ihn sich zu nehmen. So kennt man ihn aus München".
Denn Tuchel überlässt bekanntlich so wenig wie möglich dem Zufall, was sich beim Training eindrucksvoll zeigte. So ließ er dort schon jetzt die Hitze der USA simulieren, wie der "kicker" berichtet. Er selbst habe mit Chelsea schon einmal eine Saisonvorbereitung in Orlando erlebt, meinte er, deshalb "wäre ich sehr überrascht, wenn wir nicht leiden würden". Und fügte hinzu, dass "Leiden" für ihn "eine der Schlagzeilen" des Turniers sei. Ob das auch für ihn selbst gilt, muss sich noch zeigen. Fest steht: Die englischen Medien werden bereit sein.
Über den Gesprächspartner
- Uli Hebel ist Kommentator bei Sky und DAZN. Mit seinem Bruder Joachim betreibt er zudem den Podcast "Klick&Rush" über die wichtigsten Themen des englischen Fußballs.