Nach dem Debakel von Bratislava wollen die Nationalspieler sich selbst wieder "anzünden". Julian Nagelsmann bleibt stur beim Ziel WM-Titel.

Wenn Julian Nagelsmann die großen Emotionen sucht, braucht es nur einen kleinen Spaziergang. Der Fußweg vom Hotel der deutschen Nationalmannschaft zum Kölner Dom, ein paar Minuten mögen es sein, führt über die Hohenzollernbrücke mit ihren Hunderttausenden Liebesschlössern - und ohnehin liegt über der Stadt der Zauber süßer Fußball-Euphorie. Der 1. FC hat als Aufsteiger seine ersten beiden Bundesliga-Saisonspiele gewonnen! Jeder, der die typische Selbstbetrunkenheit Kölns kennt, weiß, was das bedeutet.

Nach der historischen Blamage von Bratislava kann derartige Positivität eigentlich nur hilfreich sein. Aus der irritierenden Teilnahmslosigkeit des Slowakei-Kollapses (0:2, es hätte viel schlimmer kommen können) wieder in eine brennende Begeisterung und zu neuem Mut zu finden, ist die Aufgabe des Bundestrainers und seiner nicht mal flackernden Spieler vor dem fast schon überlebenswichtigen Duell mit Nordirland am Sonntag (20.45 Uhr/RTL).

"Ratlosigkeit", nein, die spüre er nicht, versicherte Nagelsmann. Seine Kimmichs, Rüdigers, Goretzkas, Woltemades, "das sind ja alles Profis bei sehr guten, teilweise überragend großen Klubs. Ich glaube schon, dass die jetzt spüren, was es bedarf." Nämlich: Leidenschaft! Gier! Galligkeit! Hunger! Jeder Einzelne müsse "den Nebenmann anzünden".

Blitz-Krisensitzung nach Blamage gegen Slowakei

Das Team hat in einer Blitz-Krisensitzung noch in der Kabine mit der quälenden Aufarbeitung begonnen, das schöne Sprachbild vom "Meinung geigen" kann dafür wohl als zutreffend angesehen werden. Flug und Busfahrt nach Köln boten am Freitag weitere Gelegenheit, das Unerklärliche zu reflektieren. "Wir dürfen uns jetzt nicht selbst zerfleischen", sagte Torhüter Oliver Baumann, den noch die geringste Schuld getroffen hatte. "Wir müssen die Basics erstmal auf den Platz bringen."

Zweikämpfe also, Laufbereitschaft, Klarheit, Thomas Tuchel hat das immer "Schärfe" genannt. "Wenn wir die auf den Platz bringen, haben wir die Qualität, um extrem viele Akzente zu setzen", betonte Baumann. Wenn nicht: Dann haben alle vom WM-Pokal gefaselt, aber es reicht "nicht mal für die Quali", wie Kapitän Joshua Kimmich zu verstehen gab. Mit seinem Titel-Ziel stehe er nun "nicht überragend gut da, das weiß ich", sagte Nagelsmann. Wie ein Träumer eben. Einer, der in einer Großbaustelle viel zu früh die strahlende Immobilie von Höchstwert sieht, die sie einmal werden soll.

Um das zu ändern, steckte der Architekt Nagelsmann mit seinen Vertrauten die Köpfe zusammen. Der Sieg gegen Nordirland hat den Rang einer Selbstverständlichkeit – sonst geht es an die Grundfesten des nationalen Fußball-Selbstbildes, in Regionen, die kaum auszudenken sind. Nur 1930, als der DFB absagte, und 1950, als geächteter Kriegsverlierer, fuhr Deutschland nicht zur WM. Vier Niederlagen in Serie gab es zuletzt 1912/13.

Was wäre nun unglaubwürdiger? Am Ziel festzuhalten, wenn es Unendlichkeiten entfernt erscheint? Oder stur zu bleiben, gegen den Trend? Für Nagelsmann gibt es nur eine Antwort. "Es wäre ein fatales Zeichen, zu sagen, wir wollen nicht mehr Weltmeister werden", sagte er. "Mir ist aber bewusst, dass man das nicht alles locker abschütteln kann." Sorgen um seinen Job, das entgegnete er einem nordirischen Reporter, mache er sich nicht. "Angst zu haben, ist niemals gut."

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Nagelsmann: "Kann dieses ewige 'Qualität, Qualität' nicht mehr hören"

Das Personal wird sich "ein bisschen" ändern, generell habe er aber "keine 150 Deutschen" zur Auswahl, sagte der Bundestrainer sarkastisch. Er überlegte sogar, seiner Vorliebe zum Archetypen des "Workers" wieder Raum zu geben. Wenn die besten Kicker keine Leistung bringen, dann halt der Beißkratzrenner mit den langen Stollen? "Ich kann dieses ewige 'Qualität, Qualität' nicht mehr hören", wütete Nagelsmann.

Nach dem Fehlschlag mit Nnamdi Collins hat er eine wegweisende Entscheidung neu zu treffen: Wer soll rechts verteidigen? Kimmich ginge, klar, aber nach der Verschiebung ins Zentrum nicht ohne ein Eingeständnis einer Fehleinschätzung. Maximilian Mittelstädt womöglich, wie in der zweiten Halbzeit in Bratislava, ein "Linker". Jonathan Tah vielleicht, gegen die Slowakei desolat, in einer Dreierkette. Alles nicht ideal.

Kette so, Kette anders, alles Kokolores, sagte Kimmich. "Es geht einzig und allein um die Einstellung." Also: Emotionen! Vielleicht doch ein Spaziergang? (SID/bearbeitet von jum)