Zwanzig Jahre nach "Abschlussklasse" werden jetzt alle Folgen auf YouTube hochgeladen, einen Instagram-Account gibt es auch. Woher kommt das große Interesse an der Scripted-Reality-Serie? Das haben wir Schauspielerin Nina Reithmeier gefragt.
"Abschlussklasse 03" und sämtliche Spin-Offs, darunter "Freunde – Das Leben beginnt" waren Mitte der 2000er-Jahre ein riesiger Erfolg für ProSieben. Die Scripted-Reality-Serie zeigte Schüler*innen einer Münchner Oberstufe rund um das Abi.
Zu den Schauspielerinnen der ersten Generation gehörte Nina Reithmeier, die in "Abschlussklasse" die Kamerafrau Jutta spielte. Heute lebt Reithmeier in Berlin und arbeitet als Hörbuchsprecherin – und gibt erstmals ein großes Interview zu "Abschlussklasse".
Nina, ich würde Dich sofort als Jutta wiedererkennen. Geht das anderen auch so, wirst Du manchmal auf der Straße angesprochen?
Nina Reithmeier: Ja, das passiert immer noch. Mittlerweile empfinde ich es als Kompliment, dass man mich nach 20 Jahren noch erkennt. Ich erlebe manchmal im beruflichen Kontext, dass etwa Lektorinnen, mit denen ich zusammenarbeite, mir auf der Buchmesse plötzlich erzählen: Ich habe das früher auch geguckt. Anfangs war das irritierend für mich, wie ein Gruß aus einem früheren Leben, das mit meinem jetzigen nichts mehr zu tun hat.
"Ich kam dazu wie die Jungfrau zum Kind."
Wie bist Du damals an die Rolle gekommen?
Mein Fall ist speziell, weil ich über Nacht in die Serie gerutscht bin. Die anderen hatten Castings über Agenturen oder wurden in der Münchner Fußgängerzone wegen ihres coolen Looks angesprochen. Ich habe zu dem Zeitpunkt Kommunikationswissenschaften studiert und hatte bereits Praktika beim Fernsehen gemacht, unter anderem als Kameraassistentin.
Über einen Freund, der Kameramann bei "Abschlussklasse" war, kam ich an den Job, weil diejenige, die eigentlich Jutta hätte spielen sollen, am ersten Drehtag nicht erschienen ist. Es gab im Keller von der Schule ein Nachcasting mit mehreren potentiellen Juttas.
Nach zwei Stunden wurde auf mich gezeigt und gesagt: Du heißt ab heute Jutta, geh nach oben, lern den Rest der Klasse kennen, wir drehen in einer Stunde. Ich kam dazu wie die Jungfrau zum Kind. Ich wusste zunächst überhaupt nicht, was ich da tue. Wenn ich mir die ersten Folgen angucke, erkenne ich in meinen Augen die Überforderung.
Wie scripted oder nicht scripted war die Serie denn? Habt Ihr grob gesagt bekommen, was passieren soll, und dann improvisiert?
Das Konzept hat sich über die Staffeln verändert. Am Anfang bekamen wir Einzelbriefings, was in der Szene geschehen soll, die für die andere Person teilweise anders aussahen. Sie haben unserem Schauspiel nicht wirklich getraut, sondern wollten "echte" Reaktionen.
Als Beispiel: Wir sind ein Paar. Mir wird gesagt, ich würde kochen, weil heute unser Einjähriges ist, und ich solle ihn während des Essens fragen, ob wir nicht zusammenziehen wollen. Ihm wiederum wird gesagt, er sei unglücklich und wolle sich trennen. Gerade am Anfang, als wir als Laien noch nicht richtig erprobt waren, hat das dazu geführt, dass wir nicht wussten, wie eine Szene enden soll, und es zum Schluss hin immer mehr ausfranste.
Wenn wir inhaltlich nicht da landeten, wo uns die Autor*innen haben wollten, musste es mit eingefügten Interviews aufgefangen werden. Wir saßen manchmal bis Mitternacht im Klassenzimmer, um irgendetwas zu erklären, was beim Dreh nicht geklappt hatte. Das wurde relativ bald geändert und wir bekamen gemeinsame Briefings und ein klares Szenenende, um effizienter zu sein. Der Text war aber immer von uns improvisiert.
Wurden die Szenen also meist nur in einem Take aufgenommen, damit es authentisch wirkt?
Viele waren One-Taker, generell haben wir die Szenen nicht oft gedreht. Eher die Interviews, weil da vorgegeben wurde, welche Infos reinmüssen, und es nicht zu hölzern klingen durfte. Bei den anderen Szenen mussten wir manchmal wiederholen, wenn inhaltlich was gefehlt oder mit der Kamera nicht geklappt hat. Wir haben ja wirklich selbst gefilmt und mussten auch beispielsweise die Blende an die Beleuchtung anpassen.
Gründe für großen Erfolg
Habt Ihr mit dem großen Erfolg gerechnet?
Das Konzept kam ursprünglich aus Holland, wo es eine wöchentliche Serie war, ProSieben hat eine Daily daraus gemacht. Wir hatten nur zwei Wochen Vorlauf und wussten selbst nicht, wie das überhaupt aussehen würde. Es war eine Überraschungstüte. Dass es dann so eingeschlagen ist, gerade in der Altersgruppe von 10 bis 25 Jahren, hat uns echt umgehauen. Gefühlt haben einfach alle "Abschlussklasse" geguckt.
Was denkst Du, warum "Abschlussklasse" so populär war?
Ich glaube, weil sich damals ohne Social Media und Netflix alles aufs lineare Fernsehen konzentriert hat. Nach Jahren an Talkshows war es das Spannendste, was es für diese Altersgruppe gab, und es war keine synchronisierte Serie, sondern eine deutsche. Ungefähr eine Million Menschen haben jeden Tag eingeschaltet, das war echt der Hammer.
In der werberelevanten Gruppe waren wir der Big Player. Die Fans, die sich heute melden, sagen, dass wir wie eine erweiterte Freundesgruppe für sie waren. Im Grunde haben wir Instagram-Storys erfunden – heute erzählen Influencer mit ihren Handykameras, was sie im Alltag machen.
Inwiefern hat "Abschlussklasse" Deine Karriere beeinflusst?
Durch die Serie habe ich mich getraut, Schauspielerin zu werden. Als Kind und Jugendliche habe ich zwar Theater gespielt, mich aber dann auf ein klassisches Studium konzentriert. Weil "Abschlussklasse" so gut ankam, habe ich mein Studium abgebrochen und drei Staffeln gedreht.
Mit 24 bin ich ausgestiegen, um wirklich Schauspiel zu lernen. Ich wusste, nach der Serie kräht kein Hahn mehr nach mir. Ich war ja nicht als Nina Reithmeier etabliert, sondern nur in meinem Rollennamen, weil das Konzept darin bestand, so zu tun, als wäre alles echt. Das war das Unangenehmste an der Geschichte.
Aber ohne die Serie wäre ich nicht an die Schauspielschule gegangen, hätte nicht elf Jahre Theater gespielt, wäre heute nicht Hörbuchsprecherin und alles, was sonst kam. Das war der größte Benefit, wobei es mir sonst keine Türen geöffnet hat.
Du konntest also nicht zu Produktionen gehen und sagen, hey, ich war Jutta!
Nein, das wäre eher ein Grund gewesen, um mich nicht zu besetzen, glaube ich. Die Serie hatte nicht den besten Ruf, galt nicht als kulturell hochwertiges Produkt. Und die Entscheider jener Zeit waren alle schon älter und haben das nicht geguckt. Man merkt aber, dass die Fans von damals jetzt teilweise selbst in solchen Positionen sitzen, und die erinnern sich an "Abschlussklasse", weil sie das cool fanden.
Was meintest Du damit, dass die vorgetäuschte Authentizität das Unangenehmste war?
Ich hatte keinen Bock, Leute zu verarschen, aber es war Teil des Vertrags und des Konzepts, offen zu lassen, wie echt "Abschlussklasse" ist. Wir wurden im Abspann nicht mit unseren Namen erwähnt. Wir waren auch in andere Sendungen des ProSieben-Kosmos eingeladen, wo die Moderatoren dazu angehalten waren, uns mit unseren Rollennamen vorzustellen. Das war für alle Beteiligte wahnsinnig unangenehm. Heute würde das jeder durchschauen. Aber damals war das halt neu.
Es gibt auch einen Moment in der Serie, in dem ein Mädchen Selbstmord begehen will und am Ende vom Dach fällt und stirbt. Und wir standen dann in einer Talkshow und redeten darüber. Das war wirklich mein Lowpoint, den ich gerne ungeschehen machen würde. Ich kann mir die Folge auch nach wie vor nicht angucken. Ich hoffe, das nimmt uns niemand mehr übel.
"Abschlussklasse" jetzt auf YouTube
Wie kam es zu der Entscheidung, den Instagram-Account ins Leben zu rufen und die Folgen auf YouTube hochzuladen?
Auslöser war, dass Leander Marxer, der Darsteller des Manni, Anfang 2024 überraschend verstorben ist und wir das nur zufällig über Facebook mitbekommen hatten. Wir haben daraufhin eine WhatsApp-Gruppe gegründet, um die Info zu teilen. Schlimm, dass erst so eine traurige Sache passieren muss, bevor man es schafft, wieder in Kontakt zu treten.
Vier von uns leben in Berlin. Wir haben uns zum ersten Mal wieder getroffen und hatten die Idee, einen Instagram-Kanal zu erstellen, um einen gemeinsamen Anlaufpunkt für ehemalige Fans zu haben, weil wir auf unseren eigenen Accounts so oft angeschrieben wurden.
Viele baten uns darum, die Folgen hochzuladen, aber wir haben nicht die Rechte und sie entsprechend an den Sender verwiesen. Vor einem Monat meinte Alex, der den Walter spielt: Habt ihr gesehen, es gibt einen YouTube-Kanal?!
ProSieben hat entschieden, die Bänder aus dem Archiv zu holen, also haben die Mails wohl etwas gebracht. Sie versorgen uns jetzt mit Teasern für Instagram. Das hat dazu geführt, dass unser Account innerhalb kürzester Zeit auf 13.000 Follower gesprungen ist, es sind auch ein paar Prominente dabei, Elyas M‘Barek und Micky Beisenherz zum Beispiel. Und es gibt wahnsinnig schönes Feedback von den Fans. Das bereitet uns gerade viel Freude.
Wie ist es für Dich, heute Folgen der "Abschlussklasse" anzuschauen?
Ich habe bisher nur die ersten zwei geguckt, und das hat Tage gedauert – es fällt mir echt nicht leicht. Wie klingt meine Stimme? Wie sehe ich aus? Was habe ich an? Außerdem wollen wir Reaction-Videos für Instagram aufnehmen, deswegen möchte ich mir mein erstes ehrliches Gefühl auch nicht verderben.
Könntest Du Dir ein Revival der Serie oder zumindest für eine Veranstaltung eine Reunion vorstellen?
Ein paar von uns hätten richtig Bock, etwas zu machen, ein Klassentreffen als Miniserie mit drei, vier Folgen vielleicht, unbedingt selbstironisch. Da würde uns schon was einfallen. Wir stehen aber alle fest im Leben, ich denke, niemand von uns will wieder regelmäßig drehen.
Empfehlungen der Redaktion
Es ist nichts konkret geplant, in erster Linie macht es gerade einfach Spaß, in den Austausch zu gehen und kurze Videos für Instagram aufzunehmen. Mal sehen, wohin es sich entwickelt. Je mehr Interesse da ist, desto wahrscheinlicher wird eine "Freunde – 20 Jahre später"-Fortsetzung. Wir sind noch nicht richtig alt und nicht mehr richtig jung. Es ist eine schöne Erinnerung für alle.