Der VfB Stuttgart hat das DFB-Pokalfinale mit 4:2 gegen Arminia Bielefeld gewonnen, weil sie die mutige Spielweise des Gegners ausnutzten. Doch auf eine gewisse Art und Weise fühlten sich beide Mannschaften als Sieger.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Oliver Jensen sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Knapp zwei Stunden war das Pokalfinale vorüber, als die ersten Spieler des VfB Stuttgart das Stadion langsam verließen. Kapitän Atakan Karazor trug den Pokal in seinen Händen, Stürmer Deniz Undav ging neben ihm her.

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"Alter, kriege ich den noch einmal", sagte Undav zu dem Spielführer und meinte damit den Pokal. Der 28-Jährige bekam die Trophäe überreicht, roch einmal daran und verzog das Gesicht. "Puh, ich mag kein Bier", sagte er grinsend: "Irgendjemand hat Bier daraus getrunken. Wäre Jägermeister drin gewesen, hätte ich einen getrunken."

Trotz des üblen Geruchs klammerte er den Pokal fest an sich. "Ich habe nie darüber nachgedacht, einen Pokal gewinnen zu können", gab er zu. "Heute habe ich das Gott sei Dank getan. Aber so richtig realisiert habe ich das noch nicht."

Als der 28-Jährige von unserer Redaktion gefragt wurde, ob er in seiner Karriere jemals so eine Atmosphäre erlebt habe wie bei diesem Finale im Berliner Olympiastadion, antwortete er sofort: "Nein. Als ich auf den Platz gekommen bin und die Fans singen hörte - das war schon Gänsehaut. Ich war schon ein bisschen am Tanzen. Das ging das ganze Spiel so weiter. Als wir die Tore gemacht haben, war das unbeschreiblich."

Selbst die unterlegenen Bielefelder, die als Drittliga-Meister der Außenseiter gegen den Bundesligisten gewesen sind, waren von der Atmosphäre beeindruckt. "Das war einzigartig", sagte Arminia-Spieler Julian Kania im Gespräch mit unserer Redaktion. "Gefühlt war halb Bielefeld im Stadion und hat eine super Stimmung gemacht."

Vereins-Ikonen stimmten Fans auf das Spiel ein

Schon vor Spielbeginn war ein besonderes Kribbeln zu spüren. Beide Clubs hatten Vereinsikonen nach Berlin eingeladen. Der langjährige Arminia-Spieler Fabian Klos heizte die mitgereisten Bielefelder ein. "Das ist das größte Spiel der Vereinsgeschichte", rief er ins Mikrofon. "Ich weiß nicht, was heute passieren wird und ob uns der Fußball-Gott wieder zur Seite steht. Ich weiß nur, dass die Mannschaft alles auf dem Platz lassen wird."

Noch mehr Fußball-Prominenz befand sich auf der Gegenseite: Giovane Elber stand genauso wie Krassimir Balakow und Ex-VfB-Trainer Joachim Löw vor der Fankurve der Stuttgarter. "Es ist so gut zu sehen, dass heute wieder das gleiche passiert wie 97", sagte Elber. Die Drei gewannen damals mit dem VfB den DFB-Pokal.

Ein Pokalfinale hat immer eine besondere Atmosphäre. Und doch war an der ausgelassenen Stimmung beider Fanlager zu spüren, dass für diese zwei Vereine ein Endspiel außergewöhnlich ist. "Ich hatte geisteskranke Gänsehaut am ganzen Körper – und sogar eine Träne im Auge, als wir zum Aufwärmen rausgegangen sind", verriet VfB-Spieler Maximilian Mittelstädt. "Das war sehr emotional. Das hat uns brutal Energie gegeben."

Bielefeld war mutig – zu mutig

Auffällig war, dass die Bielefelder sich nicht versteckten, hoch verteidigten und den Ball schnell nach vorne spielten. Die Kehrseite ist eine löchrige Verteidigung gewesen, die der VfB zu bestrafen wusste. Beim ersten Gegentor verteidigte die Arminia so hoch, dass VfB-Stürmer Nick Woltemade seinen Gegenspieler Stefano Russo überwinden konnte und alleine auf das Tor zulief.

Beim zweiten Gegentor durch Enzo Millot wurde Arminia nach einem eigenen Eckball ausgekontert. Auch das 3:0 von Deniz Undav resultierte aus einem Konter, nachdem Innenverteidiger Stefano Russo völlig unnötig ein Dribbling in der eigenen Hälfte hinlegte und dabei den Ball verlor.

Kurios: Die Arminia hatte nach 28 Minuten zwar 64 Prozent Ballbesitz, lag aber dennoch mit drei Toren zurück. Möglicherweise hätte das Spiel einen anderen Verlauf genommen, hätte der Bielefelder Sarenren Bazee in der 12. Minute den Ball nicht frei vor dem Tor an die Latte geknallt.

So lässt sich allerdings festhalten: Die offensive und mutige Herangehensweise, dank der die Arminia vier Bundesligisten inklusive Bayer Leverkusen im Pokal besiegte, wurde ihnen im Finale zum Verhängnis. "Ich mag eine mutige Spielweise, aber sie haben es heute zu mutig gemacht", sagte ZDF-Experte Christoph Kramer.

Gegen Spielende kam es zu einer Seltenheit

Die Stimmung der Bielefelder Fans war zeitweise gespalten. Viele ließen sich die Laune nicht verderben. "Ostwestfalen, Ostwestfalen, hey, hey", sangen sie hüpfend, als sie bereits mit 0:4 zurücklagen.

Doch nicht alle blieben positiv. "Das ist traurig, einfach nur traurig", sagte ein Bielefelder Fan zu seinem Kumpel im Stadionumlauf. Obwohl das Spiel noch lief, waren die Schlangen am Würstchenstand im Bielefelder Bereich ungewöhnlich lang. Ganz nach dem Motto: Frustessen statt Fußball gucken!

Manch einer verpasste dadurch, dass Bielefeld in der Schlussphase noch zwei Treffer gelangen – erst durch den eingewechselten Julian Kania, drei Minuten später per Eigentor von VfB-Verteidiger Josha Vagnoman. Gegen Ende des Spiels ergab sich die Seltenheit, dass beide Fanlager feierten – die Stuttgarter den Pokalsieg, die Bielefelder einen couragierten Auftritt ihrer Mannschaft.

Bielefeld hatte über die komplette Spielzeit 59 Prozent Ballbesitz und sogar eine bessere Passquote (82 Prozent) als der VfB (78 Prozent). Stuttgart gewann dafür 58 Prozent der Zweikämpfe – und war vor dem Tor einfach effektiver.

Stuttgart konnte "den Fans einiges zurückgeben"

Für den VfB endet eine durchwachsene Saison, die in der Bundesliga auf Rang 9 abgeschlossen wurde, mit einem maximalen Erfolgserlebnis. "Das ist der größte Moment in meiner Karriere", sagte Woltemade. "Wir konnten auch den Fans dadurch einiges zurückgeben. Ich glaube, die Fans waren einige Male nicht zufrieden mit der Saison. Aber im Fußball ist nicht alles planbar. Wir haben jetzt zwei phänomenale Saisons gespielt."

Auch die Arminia zieht viel Positives aus der Pokalsaison. "Ich glaube, das stärkt uns auf jeden Fall", sagte Kania. "Man hat daran gesehen, dass man mit Intensität, Mentalität und Kampf jeden schlagen kann – egal, wer der Gegner ist. Ob nun Leverkusen, Freiburg oder Hannover."

Nur den VfB Stuttgart diesmal eben nicht.