Wenn die DFB-Führung in den nächsten Tagen über die Nachfolge von Ex-Bundestrainer Hansi Flick entscheidet, ist Julian Nagelsmann nach den Absagen von Jürgen Klopp und Matthias Sammer der prominenteste Kandidat auf den Bundestrainer-Posten. Der frühere Bayern-Trainer vereint viele Qualitäten, die der zuletzt zu häufig schwachen DFB-Mannschaft gut zu Gesicht stehen würden. Doch er hat auch unübersehbare Schwächen. Ist er der Richtige?

Steffen Meyer
Eine Kolumne
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Schon vom ersten Moment nach der Freistellung von Hansi Flick als Nationaltrainer am Sonntagnachmittag wurde der Name Nagelsmann als möglicher Nachfolger diskutiert. Die "Bild"-Zeitung kürte ihn mit Bezug auf DFB-Kreise zum Top-Favoriten. Der DFB soll einem Bericht von Sport1 zufolge auch schon Kontakt zu Nagelsmann aufgenommen haben.

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Uli Hoeneß beeilte sich nachzuschieben, dass ein Wechsel zum DFB am FC Bayern sicher nicht scheitern würde. Dort hat Nagelsmann noch einen langfristigen Vertrag, der im Normalfall eine Ablösesumme nötig machen könnte. An den Formalien wird es also nicht scheitern, wenngleich Nagelsmann sicher auch vom Gehalt eine teure Lösung für den Deutschen Fußball-Bund wäre.

Nagelsmann wäre einerseits eine untypische Lösung. Er hätte, anders als beinahe alle Nationaltrainer vor ihm, keine DFB-Vergangenheit. Weder als Spieler noch als Trainer. Ohnehin hat der DFB in seiner Historie nur zweimal einen echten Top-Trainer aus der Bundesliga verpflichtet. Die Idee Christoph Daum scheiterte Anfang des Jahrtausends aus bekannten Gründen. Ansonsten wäre nur Flick zu nennen, der jedoch vor seiner kurzen Zeit beim FC Bayern eine lange DFB-Karriere hinter sich hatte.

Flick fand keinen Weg zu dauerhaft erfolgreichem Fußball

Warum Nagelsmann nun zum engsten Kandidatenkreis zählt, ist nachvollziehbar. Deutschland lag in den vergangenen Monaten fußballerisch am Boden. Das 1:4 gegen Japan war nur die Spitze des Eisbergs.

Hansi Flick fand weder eine Mannschaft noch einen Stil, um dauerhaft erfolgreich Fußball zu spielen. Der Wechsel zwischen Dreier- und Viererkette. Der behäbige Ballbesitzfußball, der zuletzt viel zu oft zum Selbstzweck verkam. Und dazu eklatante Defensivprobleme, die weit vor der Viererkette anfangen. Dabei zeigte der Sieg gegen Frankreich und auch Phasen bei der WM in Katar, dass die Komplettabgesänge auf den Kader eigentlich zu früh kamen. Qualität ist ja da.

Nagelsmann hatte überall sofort Erfolg

Nagelsmann hat auf all seinen Trainerstationen im Profifußball sehr schnell Erfolg gehabt. Er ist extrem strukturiert, hat ein klares Verständnis, was eine Mannschaft braucht, um erfolgreich zu sein und kann diese Grundprinzipien sehr gut vermitteln. Anders als in der Endphase von Hansi Flick erkennt man schnell eine Handschrift.

Vor allem im Offensivspiel würde die Nationalmannschaft von Nagelsmanns Ideen profitieren. Es ist undenkbar, dass in einer Nagelsmann-Mannschaft nicht zu erkennen ist, welchen Plan die Mannschaft verfolgt. Das ist eine seiner größten Stärken.

Er hat in München gezeigt, dass seine Mannschaften mit hohem Ballbesitz viele Tore schießen können. In Leipzig zuvor war der Stil etwas anders. Überfallartiger. Umschaltintensiver. Auch das war sehr erfolgreich.

Zwar litt er in München in der Schlussphase auch unter dem fehlenden Top-Mittelstürmer, der auch der DFB-Elf sichtbar fehlt, doch Nagelsmann würde die deutsche Offensive mit Sané, Musiala, Wirtz, Brandt, Gnabry oder Müller schnell wieder auf Top-Niveau bringen. Mit Nagelsmann hätte der DFB hier taktisch einen klaren Vorteil gegen fast alle Trainer der anderen Nationalteams. Das spricht für Nagelsmann.

Defensive auch unter Nagelsmann eine Baustelle

Mehr Fragezeichen gibt es in der Defensive. In München hatte Nagelsmann ähnlich wie Flick größere Probleme, die Balance zwischen Risiko im Pressing und Absicherung zu finden. Zudem verzichtete er gern auf einen echten Sechser als Abräumer vor der Abwehr. Das hatte für Nagelsmann zumindest in München anders als aktuell unter Thomas Tuchel keine Priorität. Die Folge waren mehr Gegentore als es den Bayern lieb sein konnte.

Auch der DFB leidet darunter, dass er, anders als in der Offensive, mit Antonio Rüdiger aktuell nur noch einen echten Weltklasseverteidiger aufbieten kann. Um ihn herum wurde viel probiert und rotiert. Funktioniert hat wenig. In diesen Momenten muss das System helfen, fehlende individuelle Klasse auszugleichen.

Ob Nagelsmann hier wirklich der Richtige ist, muss nach den Vorerfahrungen ein wenig bezweifelt werden. Er verlangt extrem viel von seinen Spielern. Das macht das Spiel zwar besser, aber eben auch für alle Mannschaftsteile sehr komplex. Ist es das, was eine verunsicherte DFB-Elf derzeit braucht?

DFB muss alle Alternativen prüfen

Noch ein anderes Argument spricht gegen Nagelsmann. Sportdirektor Rudi Völler sprach mehrfach von einer gewissen Euphorie, die ein neuer Trainer im Vorfeld der EM entfachen müsse. Nagelsmann ist ein extrem selbstbewusster, kommunikativer Trainer, der öffentlich viel erklärt und einordnet und so auch Druck von einer Mannschaft nehmen kann.

Allein die Tatsache, dass er anders als Klopp, Matthäus und andere nicht sofort abgewunken hat, als es um den extrem schwierigen DFB-Job ging, spricht für ihn. Als Kumpeltyp, der die Seele einer Mannschaft oder gar einer ganzen Nation streicheln kann, ist er allerdings bisher weniger aufgefallen. Große Euphorie würde seine Ernennung zum Bundestrainer in Deutschland wohl eher nicht auslösen. Dies müsste dann vor allem über eine mitreißende und in der Konsequenz erfolgreiche Spielweise gelingen.

Insgesamt überwiegt in der speziellen Situation, in der sich die Nationalmannschaft kurz vor der ersten Heim-EM seit 1988 befindet, noch die Skepsis. Nagelsmann ist fachlich der beste verfügbare Trainer. Aber der Beste muss nicht immer der Richtige sein.

Der DFB sollte sich mit Alternativen wie Louis van Gaal, Stefan Kuntz oder einer Teamlösung, um junge hungrige Trainer wie Hannes Wolf und Sandro Wagner zumindest sehr intensiv beschäftigen, bevor er dem ersten Impuls Nagelsmann nachgibt.

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