Florian Wirtz bekommt beim FC Liverpool nach einem schleppenden Start jede Menge Gegenwind. Ein Experte nennt die Gründe, warum der 22-Jährige und die "Reds" noch nicht so gut miteinander funktionieren.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Andreas Reiners sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

England liebt Heldengeschichten. Genauso aber stehen sie auf der Insel auch darauf, sie an den Pranger zu stellen. Deshalb nehmen die Experten längst kein Blatt mehr vor den Mund.

Laut Wayne Rooney schadet Florian Wirtz "dem Gleichgewicht von Liverpool und der Art, wie sie spielen. Ich sehe nicht, wo er ins Team passt", sagte die England-Legende in seiner BBC-Radiosendung "The Wayne Rooney Show". Und Jamie Carragher meinte laut der "Daily Mail", der deutsche Nationalspieler sei "überhaupt nicht auf der Höhe", und er müsse "aus der Mannschaft herausgenommen werden".

Die beiden Beispiele zeigen recht anschaulich: Die Kritik an Wirtz ist laut, sie ist prominent – doch ist sie auch fair und ausgewogen? Nach nur wenigen Wochen beim FC Liverpool prasselten die negativen Bewertungen auf den 22-Jährigen ein, als hätte er schon anderthalb Saisons lang enttäuscht.

Dazn-Experte Hebel: Rooney "haut halt einfach einen 'Take' raus"

Das mediale Ballyhoo ist auf der Insel ganz grundsätzlich ein anderes, ein zugespitztes und ungeduldiges, denn viele Experten schießen oft und gerne über das Ziel hinaus, um Schlagzeilen zu generieren. Kritik ist dort auch Unterhaltung, mehr Attitüde denn Analyse. Das ist die Kehrseite der modernen Fußballwelt: Wer laut ist, hat die Reichweite und Aufmerksamkeit. So entsteht aber ein Bild, das mit der Realität nicht immer etwas zu tun hat.

"Da steckt manchmal ein Körnchen Wahrheit drin, aber vieles ist schlicht Theater", sagt Dazn-Experte Uli Hebel im Gespräch mit unserer Redaktion. "Rooney zum Beispiel war vom Spielertyp her gar nicht so weit weg von Wirtz. Ich kann mir kaum vorstellen, dass er das, was er da erzählt, wirklich ernst meint. Der haut halt einfach einen 'Take' raus", erklärt Hebel, der die Welle der Kritik für überzogen hält. Für oberflächlich, wenig differenziert. "Vieles ist mir einfach zu heftig, zu früh, zu laut."

Denn beim Gegenwind für den Mittelfeldspieler spielt vor allem die Ablösesumme in Höhe von 125 Millionen Euro eine große Rolle, in Kombination mit den noch mauen Statistiken. Zehn Pflichtspiele hat er für die "Reds" absolviert, acht von Beginn an. Dabei kommt er auf eine Torvorlage, in der Premier League ist er noch gänzlich ohne Scorerpunkt. Auf den ersten Blick tatsächlich zu wenig für das Geld, das der englische Meister gezahlt hat. Doch wichtig ist sowieso immer der Blick hinter die Zahlen.

Viele Kritiker haben ein falsches Bild von Wirtz

Denn viele haben offenbar ein falsches Bild, haben wohl den Dribbler erwartet, den Showspieler, den Alleinunterhalter, der er aber noch nie war. Wirtz ist kein Solist, sondern ein Strukturspieler. "Er ist da, weil er ein extrem effizienter Fußballspieler ist, wahrscheinlich einer der effizientesten, die es überhaupt gibt. Nur ist das nicht immer sichtbar", sagt Hebel. Oder anders gesagt: "Sein Spiel ist nicht TikTok-kompatibel." Hebel glaubt, dass sich genau deshalb viele an ihm abarbeiten. Denn ohne die hohe Ablöse wäre er nur einer von vielen Transfers, "mit ihr steht er automatisch im Fokus", erklärt Hebel.

Uli Hebel
Dazn-Experte Uli Hebel kennt sich in der Premier League bestens aus. (Archivbild) © picture alliance/dpa/Christian Charisius

Von "Welpenschutz" will der Dazn-Experte zwar auch nicht sprechen, aber es gibt bei der Analyse der ersten Wirtz-Wochen nicht die eine Wahrheit, den einen Grund für den fraglos schleppenden Start, den man zu solch einem frühen Zeitpunkt aber auch nicht überdramatisieren muss. "Er wurde zuvor vielleicht zu sehr überhyped und wird jetzt genauso überzogen runtergeschrieben", sagt Hebel, der betont, dass "viele kleine Mosaiksteine" zusammenkämen.

Klar ist: Liverpool ist nicht das wohl behütete Leverkusen. Und in der Premier League geht es anders zu als in der Bundesliga. Fordernder, intensiver, schneller, rauer, begleitet von dem bereits erwähnten grellen Medien-Scheinwerferlicht. Was daneben auch oft vergessen wird: Wirtz ist gerade einmal 22 Jahre alt. "So jemand braucht Zeit, um sich in einem neuen Land, einer neuen Liga, in einem ganz anderen Tempo zurechtzufinden", meint Hebel, der davon ausgeht, dass die Verantwortlichen ihm die nötige Zeit geben werden. "Sie wussten, worauf sie sich einlassen und sie wissen auch, was sie an Wirtz haben."

Liverpool ist noch in der Findungsphase

Denn was ebenfalls eine essenzielle Rolle spielt: Liverpool hat im Sommer fast eine halbe Milliarde Euro in neue Spieler investiert. Das ist ein radikaler Umbau für einen amtierenden Meister. Neu kamen neben Wirtz unter anderem Alexander Isak, Hugo Etikité, Milos Kerkez oder Jeremie Frimpong. Dafür verließen unter anderem Luis Dáaz, Darwin Nunez oder Trent Alexander-Arnold den Klub. Trainer Arne Slot rotiert daher viel, probiert Positionen aus, sucht die beste Balance, auch im Mittelfeld.

Das spielt Wirtz nicht unbedingt in die Karten. "Er ist am stärksten, wenn er links im Halbraum spielt, also in dieser leicht offenen Stellung, aus der heraus er Tempo aufnehmen kann. Dort bekommt er die Bälle so, dass er mit einer halben Drehung ins Spiel gehen kann", erklärt Hebel.

Im Moment sei es aber so, dass Slot ihn häufig anders einsetze: "Er bekommt den Ball zu spät oder zu tief, muss sich komplett aufdrehen oder läuft schon in die Tiefe, bevor das Spiel bei ihm ist. Für ihn persönlich ist das nachteilig, aber es ist eben das System, das Slot bevorzugt." Bedeutet für Wirtz: "Er muss sich da einfügen wie alle anderen auch."

Dazu merkt Wirtz selbst natürlich auch, dass es nicht so läuft wie erhofft, dass vieles noch holprig und zerfahren ist. In zu vielen Momenten versucht der Mittelfeldmann dann, etwas Besonderes zu erzwingen und verlässt manchmal seine Position, fällt zu tief ins Mittelfeld. "Und dann bekommt Liverpool Strukturprobleme im Gegenpressing. Er will Verantwortung übernehmen, vielleicht zu früh, zu viel", sagt Hebel. Wirtz versuche, zu viel zu reparieren, was zu Fehlerketten führe, die gar nicht direkt seine seien, meint der Experte.

Wirtz bekommt viel Zuspruch aus Deutschland

Keine einfache Phase, doch Wirtz bekommt aus der Heimat viel Zuspruch. "Qualität und Klasse setzen sich immer durch. Und das wird bei Florian Wirtz absolut der Fall sein", sagte Ex-Weltmeister Philipp Lahm zuletzt bei Bastian Schweinsteigers Aufnahme in die "Hall of Fame" des deutschen Fußballs.

Das sieht auch Hebel so, "weil er eines der komplettesten Profile weltweit hat". Denn Liverpool hat Wirtz geholt, weil er flexibel einsetzbar ist, als Achter, Zehner oder sogar als Flügelspieler funktionieren kann. Das kommt aber noch nicht so zum Tragen, weil sich die Mannschaft als Ganzes noch nicht gefunden hat.

In den ausschweifend geführten Diskussionen werden dann aber sogar Fragen gestellt wie: Vielleicht ist er gar nicht so gut, wie wir alle dachten? "Doch, er ist sogar besser. Nur müssen wir ihn jetzt mal spielen lassen", fordert Hebel. "Wenn die Abläufe stimmen, wenn sich Isak eingespielt hat, wenn die Mittelfeldrotation stabil ist, dann wird das funktionieren. Wirtz ist einfach zu gut, als dass es nicht funktionieren würde."

Worauf es bei Liverpool jetzt ankommen wird

Wirtz befindet sich aktuell bei der Nationalmannschaft. Rund um die WM-Qualifikationsspiele gegen Luxemburg am Freitag und drei Tage später in Nordirland kann von einer Wohlfühloase aber nicht unbedingt die Rede sein. Auch beim DFB-Team bekam er im September nach der Pleite in der Slowakei und dem mühsamen Sieg gegen Nordirland sein Fett weg. Ein Vorteil: Der Ex-Leverkusener war schon zu Bayer-Zeiten reflektiert und selbstkritisch und dürfte auch die derzeitige Situation realistisch einschätzen. Auch, weil er wissen wird, worauf er sich mit dem Wechsel auf die Insel eingelassen hat.

Worauf wird es in den kommenden Wochen ankommen? "Positionsdisziplin. Wenn er die hält, wird vieles automatisch besser", sagt Hebel. Im Spiel gegen Burnley war das bereits zu sehen, als er diszipliniert und klar in seiner Rolle agierte. Es war sein bestes Spiel bisher, nur hat es kaum jemand wahrgenommen. "Wenn er das konstant hinbekommt, kommt auch seine Stärke wieder zur Geltung, weil dann das Kollektiv ihn stärkt, statt seine Fehler ausgleichen zu müssen", erklärt Hebel.

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Und die Qualität im Kader ist so groß, dass Liverpool trotz der Findungsphase und der drei jüngsten Niederlagen in Liga und Champions League um die Titel spielen wird. Mit angeführt von Wirtz. Denn "die Bälle werden zu ihm kommen, weil seine Mitspieler gut genug sind, um ihn einzubinden. Und dann läuft das", sagt Hebel. Und dann verstummen auch die Experten.

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Über den Gesprächspartner

  • Uli Hebel ist Kommentator bei Sky und Dazn. Mit seinem Bruder Joachim betreibt er zudem den Podcast "Klick&Rush" über die wichtigsten Themen des englischen Fußballs.

Verwendete Quellen