Nach dem deutschen WM-Debakel steht bei der Nationalmannschaft ein Umbruch bevor - doch dieser dürfte viel kleiner ausfallen als gedacht. Bundestrainer Joachim Löw befindet sich in einer Zwickmühle, für die er nichts kann. Die Situation hat aber auch ihr Gutes.

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Sami Khedira lässt sich amateurhaft den Ball abluchsen, Mexiko schaltet blitzschnell um, kontert die defensiv orientierungslose DFB-Elf aus und vollendet in Person von Hirving Lozano zum 1:0.

Auch wenn es in allen drei Gruppenspielen Szenen gab, die die Hilflosigkeit des DFB-Teams aufzeigten: Es waren vor allem diese Sekunden, die verdeutlichten, dass beim Titelverteidiger dermaßen viel im Argen lag, dass der propagierte WM-Gewinn in der Retrospektive betrachtet nicht mehr als ein frommer Wunsch war, der hauptsächlich aufgrund des eigenen Selbstverständnisses in die Welt posaunt wurde.

Nicht Brasilien, Frankreich oder Belgien, nein, das leicht überdurchschnittliche Mexiko hatte ein pomadiges, phlegmatisches DFB-Team mit Leidenschaft und Tempofußball vorgeführt und Jogi Löw dabei taktisch entzaubert.

Kritik am deutschen Spielstil

Deutschland spielte über das gesamte Turnier nicht überfallartig, sondern berechenbar. "Der Ballbesitzfußball unserer Mannschaft ist out. Das Spiel war zu langsam", kritisiert auch Lothar Matthäus in der aktuellen Ausgabe des "Kicker".

Der neue Bayern-Trainer Niko Kovac schlägt in seiner WM-Kolumne für die "FAZ" in die gleiche Kerbe. "Ohne Geschwindigkeit bringt Ballbesitz heutzutage nicht mehr viel. Und wenn die Spieler im Laufe der Endlos-Kombinationen auch noch weit vorrücken, wird der Ballbesitzfußball sogar gefährlich."

Doch es mangelte nicht nur an Geschwindigkeit im deutschen Spiel, auch die nicht vorhandene taktische Flexibilität wurde offensichtlich. Löw variierte freiwillig lediglich zwischen einem 4-2-3-1- und einem 4-1-4-1-System.

Eine Dreierkette, seit wenigen Jahren von vielen Vereinen in Europas Top-Ligen erfolgreich praktiziert, gehört nicht zum taktischen Repertoire des Bundestrainers und wurde in allen drei Gruppenspielen erst angewandt, als Deutschland volles Risiko gehen musste.

Doch auch der Führungsstil des Bundestrainers soll zu Missstimmungen im Team geführt haben. Mit diesem habe vor allem die junge Garde Probleme gehabt, berichtet die "FAZ", die sich dabei auf "Spielerkreise" und "erfahrene Kenner der sportlichen und organisatorischen Verhältnisse" beim DFB-Team beruft.

Auf den Zusammen- soll der Umbruch folgen

Dass Löw seine Spieler in diesem Turnier nicht wie erhofft erreicht hat, wurde im weiteren Verlauf offensichtlich. Denn wer gehofft hatte, dass die 90-minütige Blamage gegen Mexiko eine Jetzt-erst-recht-Mentalität im deutschen Team entfachen würde, wurde sowohl beim glücklichen Last-Minute-Sieg gegen Schweden als auch endgültig bei der Niederlage gegen Südkorea eines Besseren belehrt.

Der deutsche WM-PR-Hashtag wurde mit wenigen Konsonanten erweitert. Und so wurde aus #ZSMMN spöttisch der #ZSMMNBRCH.

Der endgültige Zusammenbruch bei dieser WM gegen Südkorea ist nun mehr als eine Woche her. Und auf den Zusammen- soll nun der Umbruch folgen. Mehr als ein Umbruch light wird dieser aber nicht.

Dass Löw tatsächlich eine Arbeitsstelle aufgeben würde, die für ihn nicht nur finanziell reizvoll ist, sondern in der er mehr als ein Jahrzehnt lang ohne interne Kritik arbeiten konnte, glaubten nur diejenigen, die weiterhin davon ausgehen, dass beim DFB Mechanismen greifen, die in der Fußball-Branche sonst üblich sind.

Der Trainer bleibt, Manager Oliver Bierhoff bleibt, DFB-Präsident Dr. Reinhard Grindel bleibt sowieso. Um die Basis wieder zu erreichen, wird es zwar ein Umdenken bei der Vermarktung der "Mannschaft" geben, das in den Kompetenzbereich Bierhoffs fällt, doch der geforderte Umbruch soll vor allem im sportlichen Bereich vonstattengehen. Und genau hier entsteht eine Zwickmühle, an der Löw keine Schuld trägt.

Denn auch wenn die Abermillionen Bundestrainer hierzulande wie üblich die Zusammenstellung des WM-Kaders kritisierten, griff Löw mit Ausnahme von Leroy Sané im Gros auf das Beste zurück, das ihm zur Verfügung stand. Ob nun Sandro Wagner oder Nils Petersen statt Mario Gomez, Jonathan Tah statt Matthias Ginter oder Bernd Leno statt Kevin Trapp - an diesen Personalien scheiterte der Traum von der Titelverteidigung beileibe nicht.

Reform statt Revolution

Ohnehin war das Versagen der Nationalelf nicht mangelnder individueller Klasse geschuldet. Es war vielmehr die Masse an Störfeuern und Problemen - wie der unwürdige Umgang in der Erdogan-Affäre, die fehlende Gier der Spieler, die nicht vorhandene taktische Flexibilität des Bundestrainers - die letztlich zum ersten Vorrunden-Aus eines DFB-Teams bei einer WM führte.

Und so bleibt die Frage, ob es nicht vielmehr eine Reform statt einer Revolution im deutschen Team auf dem Weg zur Europameisterschaft 2020 bedürfe - und auch geben sollte.

Keiner der 23 WM-Fahrer hat nach dem Debakel von Russland seinen Rücktritt angekündigt. Die sich über dem Zenit ihres Schaffens befindenden Mario Gomez und Sami Khedira, 32 und 31 Jahre alt, dürften durch die nachrückende Generation endgültig werden.

Thomas Müller ist nach seinen schwachen Leistungen auf Rechtsaußen zwar angezählt, hat sich in den vergangenen Jahren aber viel Kredit erarbeitet und muss nicht um seinen Platz im Team bangen.

Mesut Özil und Ilkay Gündogan bleiben Deutschland trotz der Anfeindungen nach der Erdogan-Affäre erhalten. Die Youngster Joshua Kimmich, Timo Werner und Julian Brandt sowie Lichtblick Marco Reus werden weiterhin zum Stamm gehören, genauso wie der erfahrene Kapitän Manuel Neuer.

Auch die Innenverteidiger Mats Hummels und Jerome Boateng dürften so schnell nicht von Antonio Rüdiger, Niklas Süle, Matthias Ginter oder Jonathan Tah verdrängt werden.

Mit Spielern wie Maximilian Philipp, Nadiem Amiri, Benjamin Henrichs, Lukas Klostermann, Mahmoud Dahoud oder Thilo Kehrer hat Deutschland zwar vielversprechende Talente in der Hinterhand, noch sind diese aber nicht weit genug, die etablierten DFB-Profis herauszufordern.

Hoffnung macht hingegen der zur WM verletzte Serge Gnabry, erst recht, wenn er seine Leistungen aus Hoffenheim beim FC Bayern bestätigen sollte.

Zudem wird Löw an Sané - so etwas wie der heimliche Gewinner der WM - nun nicht mehr vorbeikommen. "Löw weiß besser als jeder andere, dass es ein Fehler war, ihn nicht mitzunehmen", sagt Lothar Matthäus im "Kicker".

Einstellung wichtiger als Aufstellung

Für den Bundestrainer wird es ein Vabanquespiel, bei dem er die richtige Mischung finden muss aus einer auch nach außen signalisierten Bereitschaft zur Veränderung und einer auf dem Leistungsprinzip fußenden Zusammenstellung der Mannschaft.

Viel entscheidender als die Frage nach der Auswahl des Personals wird es aber sein, die Tugenden, die das DFB-Team in Russland dramatisch hat vermissen lassen, wieder zu implementieren. Dazu benötigt es auch eine klare Hierarchie, mit Spielern, die vorangehen.

Mats Hummels tat dies in aller Deutlichkeit nach dem Mexiko-Spiel, geriet dem "Kicker" zufolge aber mit Sami Khedira aneinander, der sich ebenso wie der Bayern-Spieler als Wortführer sehen soll.

In der ersten Pressekonferenz im WM-Quartier in Watutinki nach dem Mexiko-Spiel gab Manuel Neuer offen zu, dass es in der Mannschaft geknallt habe. Glaubt man dem "Kicker", bezieht er sich dabei offenbar auf die Streithähne Khedira und Hummels.

Zudem soll es dem Fachmagazin zufolge intern deutliche Kritik an Toni Kroos gegeben haben, der in den vergangenen Monaten immer wieder Probleme öffentlichkeitswirksam ansprach, aber in der Partie gegen Mexiko selbst ein indiskutables Defensivverhalten an den Tag legte.

Neben Neuer fehlte dem Team ein Leader, der sowohl mit Körpersprache und Einsatzbereitschaft als auch mit starken Leistungen voranging. Jemand, wie es Bastian Schweinsteiger 2014 vor allem im WM-Finale gegen Argentinien gewesen ist. Oder wie Miroslav Klose, der nicht nur wichtige Tore erzielte, sondern sich auch im hohen Alter für keinen Meter zu schade war.

In der deutschen Nationalmannschaft mangelt es aktuell nicht an Qualität. Nur an der bedingungslosen Bereitschaft, diese abzurufen.

Kitzelt Löw diese wieder aus seinen Spielern und auch aus sich heraus, braucht Fußball-Deutschland jedenfalls nicht angst und bange zu sein. Egal, welche elf Spieler auf dem Platz stehen.

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